andersberater:innen-Logbuch #KW32: Der Apfel und die Zeit!


Der Apfel und die Zeit

Wie mich ein Apfel lehrte, die Zeit zu verstehen …

Es war ein ganz gewöhnlicher Morgen. In meiner Küche fiel mein Blick auf einen Apfel in der Obstschale – nichts Besonderes, sollte man meinen. Doch irgendetwas hatte sich verändert. Der Apfel, vor wenigen Tagen noch prall, glänzend und frisch, zeigte nun erste Spuren auf seiner Haut, ein leichtes Schrumpeln, einen dunkler gewordenen Fleck nahe des Stiels. Und in diesem unscheinbaren Moment traf mich eine Erkenntnis wie ein leiser Blitz …

Die Zeit ist nicht irgendwo – sie ist genau hier: in diesem Apfel und in allem anderen auch

Eigentlich ging es um einen Workshop, den ich als Fortbildungsangebot für Architekt:innen konzipierte. Der Titel: „Die Kunst, die eigene Zukunft zu gestalten!“ – „Zukunft gestalten“ – was für ein großes Wort. Ja, ich gebe es zu: ich liebe mitunter pathetische Formulierungen und ich liebe die beiden Worte „Zukunft“ und „Gestaltung“ und das, was dahintersteckt. Was lag da näher als, sie zusammenzubringen. Als Architekt gehe ich naturgemäß recht souverän mit Gestaltung um, denn ein Großteil der Ausbildungszeit als Architekt:in verbringt man mit Fragen der Gestalt und der Gestaltung von Objekten. Das ist ein sehr komplexes Feld und eine wirklich fundiert gute Gestaltung trennt gute Architektur von mittelmäßiger und natürlich von schlechter Architektur. Fachkolleg:innen wissen das nur zu gut und ringen oftmals lange um eine gute Gestalt.

Doch hier soll es um den anderen Begriff gehen: Zukunft. Hier wird es schwieriger, noch schwieriger, muss man eigentlich sagen. Ein bekanntes Zitat von Albert Einstein zeigt, dass wir mit dieser Thematik in bester Gesellschaft sind. Er befasste sich aus der Sicht der Physiker mit dem Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und sagte dazu: „Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist (nur) eine besonders hartnäckige Illusion!“

Mein Ansatz wirkt zunächst eher trivial, denn als alltagsorientierter Mensch möchte ich vielleicht gerne ins Handeln kommen und möchte wissen, was zu tun ist, um meine Zukunft zu gestalten. Doch kaum ist die Frage „Kann ich meine Zukunft gestalten und wenn ja wie?“ gestellt, hört sie auf, trivial zu sein.

Wenn wir uns in einer Phase der Selbstreflexion befinden, schweift der Blick, also die Erinnerung, oft in die Vergangenheit: Ist das, was war, gut gewesen? Möchte ich so weitermachen wie bisher? Kann ich überhaupt so weitermachen? – dann klingelt der Satz „Die Zukunft ist nicht die Verlängerung der Vergangenheit“.

Was nun? – Brauchen wir einen Plan? – Ich denke, wir brauchen ein Bewusstsein davon, dass hier die dritte Dimension, die Gegenwart, die entscheidende Rolle spielt. Auch wenn Einsteins Satz von der Illusion des Unterschieds noch in unseren Köpfen umhergeistert, gibt es doch im gelebten und zu lebenden Leben nur diese eine Dimension, in der wir handeln und einen Unterschied machen können. Mir gefällt in diesem Zusammenhang dieser Satz des Dalai Lama sehr: „Es gibt nur zwei Tage in deinem Leben, an denen du nichts ändern kannst. Der eine ist gestern und der andere ist morgen!“

Hiermit möchte ich zum Apfel des Anfangs zurückkehren.

Wir sprechen oft von der Zeit, als wäre sie ein Fluss, der an uns vorbeizieht. Vergangenheit liegt hinter uns, die Zukunft vor uns, und die Gegenwart scheint nur ein schmaler Grat dazwischen zu sein. Doch während ich diesen Apfel betrachtete, wurde mir klar, dass diese Aufteilung eine Erfindung unseres Geistes ist – ein Versuch, das Unfassbare zu ordnen. Die Zeit selbst kennt keine Kalender und keine Uhren. Sie ist keine Linie, auf der wir spazieren gehen. Das ist das griechische Konzept von Chronos: messbare, lineare Zeit, die kontinuierlich verrinnt und unwiederbringlich verloren geht. Ganz anders dagegen Kairos, auch ein griechisches Konzept von Zeit. Hier geht es um die Qualität, um Wirkung und den Augenblick des Seins. Beide Konzepte zusammen beschreiben unsere wahrgenommen Realität ganz gut: Zeit ist Vergänglichkeit und damit Veränderung und Veränderung ist Qualität.

Der Apfel zeigte es mir deutlich: Die sogenannte Zukunft war längst da. Sie hatte sich still durch seine Materie geschlichen, war in ihn eingedrungen, hatte ihn geformt. Nicht irgendwann, sondern in jedem einzelnen Moment, kontinuierlich, unaufhaltsam. Die Zukunft kommt nicht – sie entsteht, in diesem Augenblick. Und sie erscheint nicht als großes Ereignis am Horizont, sondern als veränderte Gegenwart. Wenn wir sagen: „Die Zeit vergeht“, meinen wir eigentlich: „Die Dinge verändern sich.“

Vergangenheit? Das sind Erinnerungen, Spuren in uns, gespeicherte Erfahrungen. Zukunft? Projektionen, Hoffnungen, Sorgen, Pläne. Beides existiert nur in unserem Denken. Wirklich real, spürbar, greifbar ist nur dieser eine Moment – jetzt.

Und genau in diesem Jetzt liegt unsere Kraft. Es ist der einzige Zeitpunkt, an dem wir handeln, entscheiden, gestalten können. Der Apfel hatte keine Wahl – er konnte die Veränderung nicht aufhalten. Aber wir Menschen haben die Fähigkeit, bewusst zu werden, innezuhalten, zu erkennen. Wir können „nur“ die Gegenwart gestalten – durch unsere Haltung, unsere Worte, unsere Taten. Und so prägen wir das, was wir zwar jetzt Zukunft nennen, doch später unsere Gegenwart sein wird.

Der Apfel in meiner Schale war nicht einfach nur ein Snack oder ein Stück Obst, das ich vergessen hatte. Er war ein stiller Lehrer. Er zeigte mir, dass die Zeit nicht irgendwann kommt oder war – sondern dass sie ist, immer, überall, in jedem Ding, in jedem Wesen. Dass sie nicht wartet, nicht aufhört, nicht zurückkehrt.

Und dass wir gut daran tun, diesen Moment bewusst zu leben – denn er ist alles, was wir wirklich haben. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Wo ist der Unterschied? Einstein lässt grüßen.

Carsten Hokema